18
Heinrich
Warnke öffnete missmutig den Zapfhahn, beobachtete, wie der Bierschaum im Glase
hochschoss, über die Kante lief und von seinen Fingern tropfte. Er stellte das
Glas auf den Tresen, rieb mit einem Frotteehandtuch die Hände trocken und
füllte das nächste Glas.
Im
Fernsehen lief eine Volksmusiksendung, die er gern ungestört gesehen hätte, wie
ein Stummfilm, denn Musik und Gesang wurden von den lebhaften Unterhaltungen
der Gäste übertönt. Plötzlich war es fast so voll wie bei der
Einwohnerversammlung geworden. Die Stühle reichten wieder nicht aus, aber das
störte die Gäste nicht.
Der Grund
des Andrangs war die Meldung in den Rundfunknachrichten über den Beschluss der
Landesregierung, dem Parlament ein Gesetz vorzulegen, mit dem der
Braunkohle-Tagebau auf dem Gebiet der Gemeinde Ödbruch geregelt werden sollte.
Die ihre Meinung sagten, eher brüllten, waren wütend.
Alles,
was sie alle wussten, wurde ständig wiederholt: die Einwohnerversammlung, der
Besuch beim Ministerpräsidenten, Corinna Markerts Auftritt in der Talkshow,
Hubert Deckers Rede auf dem Parteitag, die darüber im Fernsehen gezeigten
Berichte und der Kommentar des Chefredakteurs Markmann.
Wenn das
alles nicht genügt hatte, einen Meinungsumschwung herbeizuführen, dann sei die
Sache wohl aussichtslos, dachten die Stillen im Saal.
Wie auf
einen Schlag verstummten alle, als Karl Brummer den Raum betrat. Er sprach kein
Wort, schlängelte sich zur Theke, nahm sich eines der Gläser mit frisch
gezapftem Bier, trank es in einem Zuge leer, erkannte in den Gesichtern, dass
alle Anwesenden darauf warteten, dass er etwas sagte.
»In zwei Wochen wird im Landtag über uns
geredet. Wir müssen da eine Demonstration machen. Schreibt auf, wer Zeit hat,
mitzukommen und steckt den Zettel in meinen Briefkasten.«
Er
stellte das Glas auf der Theke ab und ging hinaus.
Die im
Raum überrascht Zurückgebliebenen drängten schweigend an die Fenster und sahen
ihren Bürgermeister mit schleppendem Gang zu seinem Haus gehen. Als er aus
ihrem Blickfeld verschwunden war, zogen sie sich von den Fenstern zurück und
sahen einander an.
Corinna
Markert fragte den Wirt:
»Heinrich, hast du ein Blatt Papier für
uns?«
Warnke nickte,
zog ein Schubfach auf, entnahm einen Block und einen Kugelschreiber.
»Wenn ihr Zeit habt, in zwei Wochen zur
Demonstration zu fahren, dann tragt euch jetzt gleich hier ein. Wichtig ist,
dass viele von uns mitmachen. Denkt jetzt nicht darüber nach, wie ihr dort hinkommt.
Das klären wir noch.
»Genau richtig, was Corinna sagt!«
Hubert
Decker hatte seinen Platz in der Ecke verlassen, stellte sich vor die Theke, wo
ihn alle sehen konnten.
»Wir können alle zur Demonstration
fahren. Wer zu arbeiten hat, nimmt dafür Urlaub. Also zögert nicht! Tragt euch
ein!«
Decker
nahm den Schreibblock und schrieb seinen Namen oben auf die erste Seite.
Corinna Markert folgte und schon bildete sich eine Schlange, in der alle
geduldig darauf warteten, mit ihren Namen die Liste zu verlängern.
19
Die Tage
vor der Demonstration verliefen im gewohnten Trott. Zwei Tage vor der Fahrt in
die Landeshauptstadt, die für die Mehrheit der Teilnehmer noch unerforschtes
Gebiet war, traf man einander abends in der Kneipe. Wegen des besonderen
Ereignisses waren alle sehr aufgeregt, wollten sich gegenseitig für die Fahrt,
über die sie noch nichts Konkretes wussten, Ratschläge erteilen, gestikulierten,
um ihren nutzlosen Reden Nachdruck zu verleihen, heftig mit den Händen, steigerten,
um noch verstanden zu werden, die Lautstärke, was sinnlos war, weil alle, die
redeten, das Gleiche taten.
Karl
Brummer kam als Letzter, hörte trotz geschlossener Fenster auf der Straße den
Lärm und dachte besorgt an den übernächsten Tag.
Wie kann
man mit dieser undisziplinierten Hühnerschar eine geordnete Demonstration
machen?
Er
öffnete die Tür und schlug sie sofort mit all seiner Kraft wieder zu.
Drinnen
wurde es still. Der Wirt kam ihm wütend entgegen.
»Bist du verrückt geworden? Willst du
meine Tür kaputt machen?«
»Deine Tür muss das aushalten. Aber du
darfst nicht solch einen Krach dulden. Wir müssen besonnen über unsere Pläne
für übermorgen reden.«
Brummer
ging mit mürrischem Gesicht zur Theke, holte aus seiner Brieftasche einen Zettel
mit Notizen und sah sich mit prüfendem Blick seine Nachbarn an.
Warum
sind die hierher gekommen? Selbst die ärgsten Großmäuler stehen jetzt so da,
als wenn sie eine Strafe für ein schwerwiegendes Verbrechen zu erwarten hätten.
»Ihr wisst, worum es geht. Übermorgen
fahren wir zur Demonstration vor dem Landtagsgebäude. Wir Ödbrucher stehen
nicht mehr allein mit unserem Protest. Einwohner der Nachbargemeinden werden
mitfahren und die beiden Omnibusunternehmer, die im Landkreis für den
öffentlichen Nahverkehr sorgen, stellen uns kostenlos vier Busse zur Verfügung.
Nicht solche Busse, die ihr vom öffentlichen Nahverkehr kennt, sondern moderne
Reisebusse mit Klimaanlage, Musik und Fernsehen. Ich erwarte, dass ihr euch
anständig benehmt und dass es während der Fahrt nicht zugeht wie im
Kindergarten.
Die Busse
werden nicht vor dem Landtagsgebäude, sondern am Marktplatz halten. Von dort
bis zum Landtag haben wir ungefähr zwei Kilometer zu gehen in Reihen mit
jeweils vier Personen. Kümmert euch nicht um die Polizei, die uns begleiten
wird.
Wir
müssen auch damit rechnen, dass Aufnahmen für das Fernsehen gemacht werden.
Seid nicht so albern, in die Kameras zu winken.
Und dann
noch etwas Wichtiges. Einige Betriebe, die zur Malerinnung gehören, liefern uns
kostenlos Schilder, die wir in unserem Protestzug tragen werden. Darauf steht: Rettet Ödbruch, Kein Tagebau in Ödbruch.
Vor dem
Landtag treffen wir Mitglieder der Umweltvereinigung, die uns unterstützen
wollen. Eine Stunde vor Beginn der Sitzung werden wir dort ankommen. Ich werde
mit den Mitgliedern des Gemeinderats in das Haus gehen und den Vorsitzenden der
Fraktionen Briefe übergeben, in denen unser Standpunkt erläutert wird.
In dem
Zusammenhang sage ich noch einmal unseren herzlich Dank an Corinna Markert. Sie
hat den Brief sehr gut formuliert, so gut, wie das von uns niemand gekonnt
hätte. Ich denke, es täte Corinna gut, wenn sie jetzt ein bisschen Beifall
hören könnte. Steht nicht so steif da wie die Besenstiele!«
Erwachen
auf Anordnung. Händeklatschen, anerkennende Rufe und nach ausreichendem
Bierkonsum ein Versuch einer Umarmung.
Die
Geehrte erkannte die Absicht rechtzeitig, ging einen Schritt zur Seite und der
Verehrer stolperte gegen die hinter ihr Stehenden.
»Hallo, was ist das denn?«, brüllte Brummer.
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