Es ist der zehnte Februar.
Im Redford Care Home, in Perth, hat vor einer
viertel Stunde der Spätdienst begonnen.
Vorsichtig klopft Lucy an die hellbraune Zimmertür.
Sie wartet einen Moment, dann tritt sie ein.
»Na endlich! Wo
warst du denn so lange?«, klingt es vorwurfsvoll.
Lucy lächelt.
Sie geht langsam zu dem Pflegebett, das mittig im Zimmer steht. Eine alte Frau
in einem geblümten Nachthemd liegt in dem Bett mit der bunten, winterlich
warmen Bettwäsche.
Durch das große
Fenster scheint die milde Februarsonne in das Zimmer. An den Wänden hängen
unzählig viele Bilder von ihren Kindern und Enkeln.
Auf dem
Sideboard aus edlem Mahagoniholz stehen ein großer Flatscreen-Fernseher und ein
altes schwarz-weiß Bild in einem silbernen Rahmen. Eigentlich ist das Bild mehr
gelb als weiß. Es zeigt ein junges Hochzeitspaar. Die Braut in einem Kleid mit
Schleier, das an eine alte Spitzengardine erinnert. Der Bräutigam trägt eine
schicke Offiziersuniform. Neben einem geblümten, gemütlich aussehenden
Ohrensessel liegt das Strickzeug der alten Frau.
Lucy nimmt die
faltigen, kalten Hände mit den langen dünnen Fingern in die ihren. Sanft und
fast zärtlich streicht sie mit einer Hand über die Hände ihrer Bewohnerin.
»Zwei Tage!«,
flüstert sie lächelnd. »Zwei Tage! Ich war ganze zwei Tage nicht da, Misses Cameron. Ich habe mir doch auch einmal ein
freies Wochenende verdient, oder?
»Zwei Tage
nur?« Auf der Stirn der alten Frau bilden sich nachdenkliche Falten. »Mir ist
es viel länger vorgekommen!«
Jetzt hat sich
die vorwurfsvolle Stimme in eine leise, entschuldigende verwandelt.
»Warum sind Sie
im Bett? Geht es Ihnen nicht gut?«, will Lucy behutsam wissen.
»Mein Rücken …
es ist immer dasselbe. Wenn ich länger als zwei Stunden sitze, halte ich es
einfach nicht mehr aus.«
»Möchten Sie
eine Schmerztablette?«
Die alte Frau
winkt ab.
»Peggy hat mir
vorhin schon eine gegeben.«
»Und … ist es
besser geworden?«
Misses Cameron
schüttelt verneinend den Kopf.
»Vielleicht
müssen wir ja nur noch etwas warten, bis die Wirkung richtig einsetzt.« Sie
versucht die alte Frau zu vertrösten, aber beide wissen, dass es nicht besser
werden wird.
Ein Leben
voller harter, schwerer Arbeit hinterlässt eben seine Spuren. Eine Operation
würde kein Arzt mehr durchführen. Misses Cameron hat so viele andere Gebrechen,
dass sie alleine die Narkose wohl nicht überleben würde.
Stattdessen
wurde eine Therapie mit Fentanylpflastern versucht, um ihre starken
Rückenschmerzen in den Griff zu bekommen. Die Pflaster haben die gewünschte
Linderung gebracht, nur die Nebenwirkungen hätten sie fast umgebracht. Die
ständige Übelkeit mit zeitnahem Erbrechen haben die arme Frau in zwei Wochen
vier Kilogramm ihres Körpergewichtes gekostet. Und eine neu eingestellte
Medikation konnte die Nebenwirkungen bei ihr auch nicht lindern. So wurden die
Pflaster wieder abgesetzt und die Schmerzen sind zurückgekommen.
Es gibt überall
auf der Welt Politiker, die vollmundig behaupten, dass in unserer Zivilisation
niemand unter Schmerzen leiden muss. Meist kommt das Thema im Zusammenhang mit
Sterbehilfe auf. Lucy sieht das Ganze etwas differenzierter. Vielleicht, weil
sie ihre Tage mit Menschen verbringt, die von täglichen Schmerzen ein Lied
singen könnten.
»Wie wäre es
mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen?«
»Nein, danke!
Ich habe keinen Hunger.«
»Ich bringe Ihnen
trotzdem etwas! Vielleicht möchten Sie ja später etwas essen.«
Lucy entzieht
der alten Frau ihre Hand und geht wieder nach draußen.
Auf dem Flur
kommt ihr der aufgelöste Graham Macintosh entgegen,
ein großer, hagerer Mann mit breiten Schultern. Trotz seiner sechsundachtzig
Jahre kann er noch ohne Gehstock und Rollator laufen, glaubt er zumindest. Wenn
man ihm seinen Rollator hinstellt und ihn darum bittet, ihn auch zu benutzen,
nickt er nur. Und dann steht der Rollator den ganzen Tag irgendwo herum, weil
er ihn doch nicht benutzt. Wenn man ihn danach fragt, weiß er für gewöhnlich
nie, wo sein Gefährt gerade steht. Für seine Sturzprophylaxe wäre der Rollator
allerdings unerlässlich. Schließlich hat Graham Macintosh bereits einige böse
Stürze hinter sich und alle befürchten, dass er sich irgendwann noch einen
Oberschenkelhalsbruch zuzieht.
»Wo geht es
hier raus? Ich muss jetzt dringend nach Hause gehen!«, erklärt er Lucy mit
lauter, aufgebrachter Stimme.
»Sie wollen
jetzt nach Hause gehen? Aber das geht doch nicht! Ich habe mir so viel Mühe
gemacht und extra für Sie einen leckeren Kuchen gebacken. Sie können doch jetzt
nicht einfach gehen, ohne ihn wenigstes probiert zu haben! Setzen Sie sich
bitte! Ich bringe Ihnen eine schöne Tasse Tee und ein großes Stück Kuchen.
Frisch gestärkt können Sie dann immer noch nach Hause gehen.«
Sie nimmt den
alten Mann an der Hand und zieht ihn sanft zu einem Tisch.
Bereitwillig
setzt er sich auf den dazugehörigen Stuhl mit braunem Lederbezug. Seine
Erwartungen auf ein großes Stück Kuchen scheinen im Moment den Wunsch, nach
Hause zu gehen, verdrängt zu haben.
»Ich komme
gleich wieder!«
Kopfschüttelnd
geht Lucy Redhill in die Teeküche.
Sie ist
neunundzwanzig Jahre alt. Ihr blondes Haar hat sie mit einem Haargummi zu einem
Pferdeschwanz gebunden. Lucy ist einen Meter zweiundsiebzig groß und schlank.
Sie trägt einen dunkelbraunen Kasack, auf dem ihr Name steht, dazu eine weiße
Hose und weiße Turnschuhe.
»Graham will
schon wieder nach Hause gehen.«, flüstert sie leicht genervt.
»Der war heute
Vormittag schon kaum zu bremsen, hat der Frühdienst erzählt. Was macht er
jetzt?«
»Ich habe ihn
draußen auf einen Stuhl gesetzt und gebeten, erst einmal Tee zu trinken. Bis
dahin hat er bestimmt schon wieder vergessen, dass er eigentlich nach Hause
gehen wollte.«
»Was hast du am
Wochenende gemacht?«, will Sam von Lucy wissen, während er den Kuchen in Stücke
schneidet und auf Teller verteilt.
»Nichts
Besonderes! Ausgeschlafen, und du?«
»Meine
Schwester ist umgezogen und ich konnte das ganze Wochenende Kisten und Möbel
schleppen. Da bin ich jetzt fast froh darüber, dass ich heute wieder arbeiten
darf, glaub mir!«
Sam Carter ist
ein lieber und hilfsbereiter Kollege. Lucy arbeitet gerne mit ihm zusammen. Auch
er trägt einen braunen Kasack mit seinem Namen, eine weiße Hose und dazu
neongrüne Turnschuhe.
Sam hat kurzes
braunes Haar, das sich auf seinem Kopf kringelt. Es ist einen Meter
fünfundsechzig groß und hat eine eher stämmige Figur. Außerdem hat einige
Tattoos an Armen und Beinen. Das Neuste ziert den Hals.
Lucy lächelt
ihren Kollegen mitfühlend an. Sie schnappt sich eine Tasse Tee nebst einem
Stück Kuchen und geht damit nach draußen zu Mister Graham Macintosh.
Er ist weg.
1 Kommentar:
Herzlichen Dank für die Spitzenbewertung!
"Absolut lesenswert.
Rezension aus Deutschland vom 22. Mai 2022
Alle Bücher von Gisela Greil sind toll, aber gerade bei diesem Buch konnte ich mich in die Geschichte voll hineinversetzen. Da ich selber 22 Jahr in der Altenpflege tätig war, konnte ich mich mit den täglichen Arbeitsablauf von Lucy voll identifizieren. Die kriminelle Machenschaft von Roger, mach die Geschichte richtig spannend. Alles in allem wieder ein sehr gut gelungenes Buch."
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