Dienstag, 3. Mai 2022

Leseprobe aus ›Mehr gelbe Tage‹

1


Es ist der zehnte Februar.

Im Redford Care Home, in Perth, hat vor einer viertel Stunde der Spätdienst begonnen.

Vorsichtig klopft Lucy an die hellbraune Zimmertür. Sie wartet einen Moment, dann tritt sie ein.

»Na endlich! Wo warst du denn so lange?«, klingt es vorwurfsvoll.

Lucy lächelt. Sie geht langsam zu dem Pflegebett, das mittig im Zimmer steht. Eine alte Frau in einem geblümten Nachthemd liegt in dem Bett mit der bunten, winterlich warmen Bettwäsche.

Durch das große Fenster scheint die milde Februarsonne in das Zimmer. An den Wänden hängen unzählig viele Bilder von ihren Kindern und Enkeln.

Auf dem Sideboard aus edlem Mahagoniholz stehen ein großer Flatscreen-Fernseher und ein altes schwarz-weiß Bild in einem silbernen Rahmen. Eigentlich ist das Bild mehr gelb als weiß. Es zeigt ein junges Hochzeitspaar. Die Braut in einem Kleid mit Schleier, das an eine alte Spitzengardine erinnert. Der Bräutigam trägt eine schicke Offiziersuniform. Neben einem geblümten, gemütlich aussehenden Ohrensessel liegt das Strickzeug der alten Frau.

Lucy nimmt die faltigen, kalten Hände mit den langen dünnen Fingern in die ihren. Sanft und fast zärtlich streicht sie mit einer Hand über die Hände ihrer Bewohnerin.

»Zwei Tage!«, flüstert sie lächelnd. »Zwei Tage! Ich war ganze zwei Tage nicht da, Misses Cameron. Ich habe mir doch auch einmal ein freies Wochenende verdient, oder?

»Zwei Tage nur?« Auf der Stirn der alten Frau bilden sich nachdenkliche Falten. »Mir ist es viel länger vorgekommen!«

Jetzt hat sich die vorwurfsvolle Stimme in eine leise, entschuldigende verwandelt.

»Warum sind Sie im Bett? Geht es Ihnen nicht gut?«, will Lucy behutsam wissen.

»Mein Rücken … es ist immer dasselbe. Wenn ich länger als zwei Stunden sitze, halte ich es einfach nicht mehr aus.«

»Möchten Sie eine Schmerztablette?«

Die alte Frau winkt ab.

»Peggy hat mir vorhin schon eine gegeben.«

»Und … ist es besser geworden?«

Misses Cameron schüttelt verneinend den Kopf.

»Vielleicht müssen wir ja nur noch etwas warten, bis die Wirkung richtig einsetzt.« Sie versucht die alte Frau zu vertrösten, aber beide wissen, dass es nicht besser werden wird.

Ein Leben voller harter, schwerer Arbeit hinterlässt eben seine Spuren. Eine Operation würde kein Arzt mehr durchführen. Misses Cameron hat so viele andere Gebrechen, dass sie alleine die Narkose wohl nicht überleben würde.

Stattdessen wurde eine Therapie mit Fentanylpflastern versucht, um ihre starken Rückenschmerzen in den Griff zu bekommen. Die Pflaster haben die gewünschte Linderung gebracht, nur die Nebenwirkungen hätten sie fast umgebracht. Die ständige Übelkeit mit zeitnahem Erbrechen haben die arme Frau in zwei Wochen vier Kilogramm ihres Körpergewichtes gekostet. Und eine neu eingestellte Medikation konnte die Nebenwirkungen bei ihr auch nicht lindern. So wurden die Pflaster wieder abgesetzt und die Schmerzen sind zurückgekommen.

Es gibt überall auf der Welt Politiker, die vollmundig behaupten, dass in unserer Zivilisation niemand unter Schmerzen leiden muss. Meist kommt das Thema im Zusammenhang mit Sterbehilfe auf. Lucy sieht das Ganze etwas differenzierter. Vielleicht, weil sie ihre Tage mit Menschen verbringt, die von täglichen Schmerzen ein Lied singen könnten.

»Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen?«

»Nein, danke! Ich habe keinen Hunger.«

»Ich bringe Ihnen trotzdem etwas! Vielleicht möchten Sie ja später etwas essen.«

Lucy entzieht der alten Frau ihre Hand und geht wieder nach draußen.

Auf dem Flur kommt ihr der aufgelöste Graham Macintosh entgegen, ein großer, hagerer Mann mit breiten Schultern. Trotz seiner sechsundachtzig Jahre kann er noch ohne Gehstock und Rollator laufen, glaubt er zumindest. Wenn man ihm seinen Rollator hinstellt und ihn darum bittet, ihn auch zu benutzen, nickt er nur. Und dann steht der Rollator den ganzen Tag irgendwo herum, weil er ihn doch nicht benutzt. Wenn man ihn danach fragt, weiß er für gewöhnlich nie, wo sein Gefährt gerade steht. Für seine Sturzprophylaxe wäre der Rollator allerdings unerlässlich. Schließlich hat Graham Macintosh bereits einige böse Stürze hinter sich und alle befürchten, dass er sich irgendwann noch einen Oberschenkelhalsbruch zuzieht.

»Wo geht es hier raus? Ich muss jetzt dringend nach Hause gehen!«, erklärt er Lucy mit lauter, aufgebrachter Stimme.

»Sie wollen jetzt nach Hause gehen? Aber das geht doch nicht! Ich habe mir so viel Mühe gemacht und extra für Sie einen leckeren Kuchen gebacken. Sie können doch jetzt nicht einfach gehen, ohne ihn wenigstes probiert zu haben! Setzen Sie sich bitte! Ich bringe Ihnen eine schöne Tasse Tee und ein großes Stück Kuchen. Frisch gestärkt können Sie dann immer noch nach Hause gehen.«

Sie nimmt den alten Mann an der Hand und zieht ihn sanft zu einem Tisch.

Bereitwillig setzt er sich auf den dazugehörigen Stuhl mit braunem Lederbezug. Seine Erwartungen auf ein großes Stück Kuchen scheinen im Moment den Wunsch, nach Hause zu gehen, verdrängt zu haben.

»Ich komme gleich wieder!«

Kopfschüttelnd geht Lucy Redhill in die Teeküche.

Sie ist neunundzwanzig Jahre alt. Ihr blondes Haar hat sie mit einem Haargummi zu einem Pferdeschwanz gebunden. Lucy ist einen Meter zweiundsiebzig groß und schlank. Sie trägt einen dunkelbraunen Kasack, auf dem ihr Name steht, dazu eine weiße Hose und weiße Turnschuhe.

»Graham will schon wieder nach Hause gehen.«, flüstert sie leicht genervt.

»Der war heute Vormittag schon kaum zu bremsen, hat der Frühdienst erzählt. Was macht er jetzt?«

»Ich habe ihn draußen auf einen Stuhl gesetzt und gebeten, erst einmal Tee zu trinken. Bis dahin hat er bestimmt schon wieder vergessen, dass er eigentlich nach Hause gehen wollte.«

»Was hast du am Wochenende gemacht?«, will Sam von Lucy wissen, während er den Kuchen in Stücke schneidet und auf Teller verteilt.

»Nichts Besonderes! Ausgeschlafen, und du?«

»Meine Schwester ist umgezogen und ich konnte das ganze Wochenende Kisten und Möbel schleppen. Da bin ich jetzt fast froh darüber, dass ich heute wieder arbeiten darf, glaub mir!«

Sam Carter ist ein lieber und hilfsbereiter Kollege. Lucy arbeitet gerne mit ihm zusammen. Auch er trägt einen braunen Kasack mit seinem Namen, eine weiße Hose und dazu neongrüne Turnschuhe.

Sam hat kurzes braunes Haar, das sich auf seinem Kopf kringelt. Es ist einen Meter fünfundsechzig groß und hat eine eher stämmige Figur. Außerdem hat einige Tattoos an Armen und Beinen. Das Neuste ziert den Hals.

Lucy lächelt ihren Kollegen mitfühlend an. Sie schnappt sich eine Tasse Tee nebst einem Stück Kuchen und geht damit nach draußen zu Mister Graham Macintosh.

Er ist weg.




1 Kommentar:

SMR hat gesagt…

Herzlichen Dank für die Spitzenbewertung!

"Absolut lesenswert.
Rezension aus Deutschland vom 22. Mai 2022
Alle Bücher von Gisela Greil sind toll, aber gerade bei diesem Buch konnte ich mich in die Geschichte voll hineinversetzen. Da ich selber 22 Jahr in der Altenpflege tätig war, konnte ich mich mit den täglichen Arbeitsablauf von Lucy voll identifizieren. Die kriminelle Machenschaft von Roger, mach die Geschichte richtig spannend. Alles in allem wieder ein sehr gut gelungenes Buch."