Montag, 20. Dezember 2010

Weihnachten in der Leseprobe – Olivers Reisen

Olivers Reisen von Sigrid Lenz
Leseprobe
Olivers Reisen
Oliver schlenderte an Babettes Café vorbei und bemühte sich, einen möglich desinteressierten Eindruck zu hinterlassen. Lediglich aus den Augenwinkeln kontrollierte er, ob Susi zu sehen war. Als seine Suche keinen Erfolg zeigte, straffte er die Schultern und steuerte aus dem Städtchen heraus. Nicht, dass es schwierig war, den Ort zu verlassen. Egal, in welche Richtung er sich aufmachte, es dauerte nicht lange und er stand im freien Feld, im Wald oder unwegsamen Gelände. Die Gegend war so uninteressant wie ein Ballen Stroh.
Doch einen Ort gab es, an den Oliver sich hin und wieder gerne zurückzog. Sogar als die Temperaturen zu unwirtlich für längere Aufenthalte im Freien geworden waren.
Er setzte sich dort auf einen liegenden Baumstamm und zog seine Jacke fester um sich. Dann langte er nach einer Zigarette und zündete sie an.
Die Wolke gefrorenen Atems vermischte sich mit dem sich kräuselnden Rauch. Lange hielt er es in diesem Kaff nicht mehr aus – soviel war sicher.
Als er wider Erwarten Gesellschaft bekam, erstarrte er. Auf dem Weg tauchte eine Gestalt auf, die ihm vage bekannt vorkam. War es nicht der Mann, den er in der Nähe von Wolfgangs Haus gesehen hatte?
Oliver nahm einen Zug, hob sein Kinn, inhalierte, und stieß den Qualm dann herausfordernd aus.
Unter halb geschlossenen Lidern fixierte er den Fremden, der mit Entschiedenheit in seine Richtung steuerte. Er besaß ausreichend Erfahrung mit schamlosen Freiern, die dachten, sie könnten sich an jeden Jungen heranmachen, egal welchen Alters. Nur war ihm dieser Typ Mann in der Kleinstadt bislang nicht begegnet. Andererseits sah der Fremde ganz so aus, als befände er sich auf der Durchreise.
Oliver musterte ihn. Nicht dass er große Lust auf eine Auseinandersetzung verspürte, aber in seiner momentanen Stimmung hatte er auch nicht vor, einer solchen aus dem Weg zu gehen.
Der Mann blieb vor ihm stehen.
Sollte er sich ruhig trauen, noch näher zu kommen, dann würde er ihm schon zeigen, wo es lang ging. Doch der andere kam nicht näher.
Er blieb stehen und fischte seinerseits eine Packung Zigaretten aus der Tasche. »Bist du nicht zu jung zum Rauchen?«, gestikulierte er mit einer Zigarette in der Hand.
Oliver schüttelte den Kopf.
Der andere schwieg, und starrte ihn weiterhin an.
»So einer bin ich nicht«, knurrte Oliver schließlich abweisend.
»Was für einer?«, fragte der andere entgeistert.
»Na – so einer.« Oliver ließ seinen Blick auffallend langsam in Richtung von Massimos Unterleib gleiten.
»He! Fiele mir im Traum nicht ein.«
»Dann ist ja gut.«
Oliver wandte seinen Blick ab. Er betrachte das klägliche Rinnsal vor seinen Füßen. Nur wenig kälter und der Bach wäre gefroren. In wenigen Wochen war Oliver gezwungen, mit Wolfgang Weihnachten zu feiern. Er rollte mit den Augen. Im Winter abzuhauen schien zwar reichlich dämlich und sein einziger Versuch, Agnes per Telefon aufzuspüren, hatte zu nichts geführt. Dennoch fürchtete er, dass ihm der Feiertagskram in dieser Stadt noch mehr auf die Nerven gehen würde als irgendwo anders. Wenn er Pech hatte, verlangte Wolfgang noch von ihm, in die Kirche zu gehen.
Olivers Blick streifte wieder Massimo, der immer noch vor ihm stand, an seiner Zigarette zog und ihn prüfend betrachtete.
»Hast du ein Problem? Ich kam hierher, um allein zu sein. Normalerweise leistet mir an diesem spannenden Ort niemand Gesellschaft. Und jetzt brauche ich das schon gar nicht.«
Massimo schüttelte den Kopf: »Ist schon gut. Ich kenn dich von früher.«
»Was?« Für eine Sekunde sah Oliver den Mann aufmerksam an. »Da klickt nichts bei mir.«
»Ist ein Weilchen her.«
»Aha.«
»Ich konnte deine Mutter nicht auftreiben.«
»Wie aufregend.«
»Na ja. Dann geh ich mal.«
Massimo ließ die Zigarette zu Boden fallen und trat sie aus.
Oliver hob kurz den Blick, wandte diesen jedoch rasch wieder ab und lauschte, wie sich die Schritte von ihm entfernten. Der Boden knirschte leise unter Massimos Schuhen.

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