Donnerstag, 29. August 2013

Wurzeln der Hoffnung – Leseprobe


Er setzte sich mit einem lauten Seufzer zu ihr. Zärtlich drehte er sie herum und streichelte sanft über ihre Wange.

»Meine arme kleine Pirata, was hat man dir nur angetan, dass du so voller Selbsthass und Zerstörung bist? Ich bin wirklich der Letzte, der dir wehtun möchte oder könnte. Wenn du willst, werde ich dir helfen, ins Leben zurück zu finden. Das Wichtigste ist, dass du mir vertraust. Hundertprozentig und bedingungslos. – Hörst du mir zu, Pirata?«

»Ja, ich höre dir zu«, kam es leise retour.

»Gut, dann werde ich dir jetzt etwas sagen. Ich muss jetzt gehen. Aber bald wird jemand kommen, um dich zu befreien. Meine Kameraden werden nicht erfahren, dass ich eine Geisel hatte. Ich will dich aus dieser Sache heraushalten. Hast du mich verstanden?«

»Ja, aber ich kann nicht mehr in diese Welt zurück. Ich habe alles hinter mir gelassen. Ich kann nicht mehr an morgen denken.«

»Dafür habe ich einen Vorschlag. Die Tante meines Schwagers hat einen Reitstall im Nordosten. Den betreibt sie zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Stieftochter. Sie haben jedes Jahr in der Saison enorm viel Arbeit und können jemanden gebrauchen, der ihnen ein wenig unter die Arme greift. – Magst du Pferde?«

Sie drehte sich zu ihm herum und setzte sich erstaunt auf. Sie rieb sich die Augen.

»Sicher mag ich Pferde. Aber ich kann nicht wieder in das normale Leben zurück. Ich habe mit diesem Leben abgeschlossen. Wie soll ich nur –«

»Manchmal muss man einen Schritt zurück gehen, um vorwärts zu kommen.«

»Aber es gibt kein Vorwärts mehr für mich!«

»Und der Sänger der ›Centauri‹? Interessiert er dich nicht mehr? Hast du ihn schon vergessen?«

Sie schwieg und senkte ihren Blick.

»Wenn du ihn kennenlernen möchtest, dann solltest du meinen Vorschlag annehmen.«

»Aber wie soll ich mich nur zurechtfinden?«

»Mach dir keine Gedanken, bitte. Ich kümmere mich um alles. Du musst mir nur vertrauen.«

»Ich habe wohl keine andere Wahl. – Werde ich dich wiedersehen?«

»Das kann ich dir nicht versprechen, Pirata. Vertraust du mir?«

»Ja, aber –«

»Also gut, kein Aber mehr. Einverstanden?«

Sie nickte.

»Einverstanden. Aber es ist alles so unwirklich. Ich weiß nicht mehr was ich denken soll. Ich weiß nur eines, ich möchte mich jetzt an dich kuscheln und in deinen Armen einschlafen und nie wieder aufwachen.«

Sie legte ihren Kopf an seine Schulter.

»Kannst du reiten?«

»Ja, meine Oma hatte zwei Pferde und einen Esel.«

»Fein, wo hast du bisher gelebt?«

»In der Balagne, in Aregno.«

»Ah, kennst du die Castagnicca?«

»Ja, ein wenig. Ich mag die Gegend um den Monte San Petrone sehr.«

Er lächelte zufrieden.

»Ich auch.«

»Aus welcher Gegend stammst du?«

»Die Familie meiner Mutter kommt aus der Castagnicca und die meines Vaters aus dem Fium-Orbu. Aber geboren bin ich in Bastia.«

»Das Fium-Orbu. Die berühmte Erzregion der legendären Ehrenbanditen.«

Er lächelte und nickte. Einen Augenblick herrschte Schweigen. Schließlich sagte er:

»Wenn du einverstanden bist, dann rede ich mit der Tante meines Schwagers, um sie zu bitten, dich bei ihr aufzunehmen.«

Sie starrte auf die Steindecke und fragte dann noch einmal flüsternd:

»Werde ich dich wiedersehen?«

»Wie ich schon sagte, ich kann es dir nicht versprechen. Außerdem ist da noch der Sänger von den ›Centauri‹, der dich so interessiert.«

»Ja, aber wie soll ich an ihn herankommen?«

»Ich glaube nicht, dass es dir an Einfällen mangelt, einen Mann kennenzulernen, den du kennenlernen möchtest. Du bist hübsch und intelligent und du weißt, was du willst.«

»Dessen bin ich mir nicht mehr so sicher«, sagte sie leise. Sie seufzte.

»Ich, ich habe wirklich mit allem abgeschlossen. Wie soll ich es schaffen, mich wieder zu integrieren? Die Vorstellung ist im Moment zu viel für mich. Ich fühlte mich völlig frei, weil ich meine Seele schon in das Nichts geschickt hatte. Ich kann jetzt nicht an ein neues Leben denken.«

Ihre Stimme wurde immer leiser.

»Ich glaube, es ist, wie in dem Augenblick bevor man geboren wird.«



Wurzeln der Hoffnung
Ein Korsika-Roman
von Miluna Tuani

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